11. Januar 2025
„Gang im Schnee“ von Ernst Stadler verbindet die Schönheit und Kälte des Winters mit tiefen existenziellen Themen.
Es ist nicht nur eine Beschreibung einer verschneiten Landschaft, sondern eine poetische Reflexion über das Leben, die Zeit und die Beziehung des Menschen zu seiner Welt. Stadler schafft es, die äußere Natur und die innere Welt des lyrischen Ichs auf meisterhafte Weise zu verschmelzen.

Gang im Schnee
Nun rieseln weiĂźe Flocken unsre Schritte ein.
Der Weidenstrich läßt fröstelnd letzte Farben sinken,
Das Dunkel steigt vom FluĂź, um den versprengte Lichter blinken,
Mit Schnee und bleicher Stille weht die Nacht herein.
Nun ist in samtnen Teppichen das Land verhĂĽllt,
Und unsre Worte tasten auf und schwanken nieder
Wie junge Vögel mit verängstetem Gefieder –
Die Ebene ist grenzenlos mit Dämmerung gefüllt.
Um graue WolkenbĂĽndel blĂĽht ein schwacher Schein,
Er leuchtet unserm Pfad in nachtverhängte Weite,
Dein Schritt ist wie ein fremder Traum an meiner Seite –
Nun rieseln weiĂźe Flocken unsre Sehnsucht ein.
Ernst Stadler (1883-1914)